Prof. Dr. Karl-Heinz Meier-Braun

Migrationexperte, Buchautor, Wissenschaftler

Die Gastarbeiter wurden wie Ware bestellt

Von Torsten Schöll

Das Wirtschaftswunderland Deutschland war einst dringend auf Arbeitskräfte aus Südeuropa angewiesen. Mit der Würde dieser Menschen nahmen es die Arbeitgeber nicht allzu genau. Ein ehemaliger Arbeitsvermittler erinnert sich.

Fast täglich hat der Fernschreiber „Bestellungen“ wie diese ausgespuckt: „Bitte sofort drei Stück Hilfsarbeiter und zwei Stück Transportarbeiter.“ Dem Verfasser des Telegramms, das den jungen Arbeitsvermittler im sechsten Stock eines Verwaltungsgebäudes in Thessaloniki erreichte, war nicht etwa versehentlich die Wortwahl entgleist. Der Ton, mit dem deutsche Firmen in den 1960er Jahren bei der Deutschen Kommission in Griechenland Gastarbeiter anforderten, war nicht selten von entlarvender Direktheit: Zu dieser Zeit wurden im Wirtschaftswunderland Deutschland in den südeuropäischen Ländern, die mit der Bundesrepublik Anwerbeabkommen unterzeichnet hatten, „nicht Menschen, sondern eine Ware bestellt“.

Bittere Erinnerungen

Fast wie auf dem Pferdemarkt wurde das Gebiss kontrolliert.

Hans-Jörg Eckardt über den damaligen Arbeitsmarkt

Der das erzählt, ist Hans-Jörg Eckardt. Der heute 77-Jährige war ab 1965 für rund eineinhalb Jahre in Nordgriechenland als junger Arbeitsvermittler zuständig für die Anwerbung von Gastarbeitern – zuerst in Athen, dann in Thessaloniki. Der spätere langjährige Pressesprecher des Landesarbeitsamts Baden-Württemberg erinnert sich noch heute mit einiger Bitternis, was mitunter auf seinem Schreibtisch landete: „Man brauchte damals lediglich Personen, die zwei Hände und zwei Füße hatten, um irgendwelche Hebel oder Fußtasten zu betätigen“, sagt Eckardt. Deutschkenntnisse seien dazu nicht nötig gewesen.

In einem kleinen schwarzen Büchlein hat er seine Erinnerungen notiert. In der Anfangszeit der Vermittlung seien insbesondere Frauen gefragt gewesen. „Auf dem Bahnsteig in Thessaloniki ließen sie Männer mit kleinen Kindern an der Hand und Säuglingen auf dem Arm in eine ungewisse Zukunft zurück“, erzählt Hans-Jörg Eckardt. Und weiter: „Davor waren viele von ihnen noch nie aus ihrem Dorf herausgekommen.“

Bevor der damals blutjunge Mitarbeiter des Landesarbeitsamts Stuttgart seinen Auslandseinsatz antrat, war er schon zwei Jahre lang zuständig für den Empfang der Gastarbeiter am Stuttgarter Bahnhof gewesen. „Die Griechen kamen einmal die Woche um 5.23 Uhr an, die Spanier um 23.03 Uhr. Nachmittags die Italiener.“ Danach mussten sie weiterverteilt werden. Die ankommenden Griechen seien da schon zwei Tage und zwei Nächte unterwegs gewesen. „Sie betraten ein nicht nur klimatisch kaltes Land.“

Manche blieben nur kurze Zeit

Vor genau 60 Jahren, am 30. März 1960, hatte Deutschland mit Griechenland ein Anwerbeabkommen abgeschlossen. Die boomende deutsche Wirtschaft verlangte nach Arbeitskräften für die Indus­trie, das Baugewerbe, die Landwirtschaft. Ein Tag zuvor war das Abkommen mit Spanien geschlossen worden, Italien hatte 1955 den Anfang gemacht. 1974, nach dem Anwerbestopp, lebten rund 150 000 Griechen und Spanier in Baden-Württemberg. Manche waren nur für kurze Zeit gekommen, manche länger, einige für immer: 2018 waren laut Statistischem Landesamt noch knapp 34 000 Personen spanischer und griechischer Herkunft im Land, die auch schon 1974 in Deutschland regis­triert waren.

„Die Auswanderung brachte Griechenland und den anderen Herkunftsländern Vor- und Nachteile“, sagt der Stuttgarter Migrationsexperte Karl-Heinz Meier-Braun. Gemeinsam mit Reinhold Weber von der Landeszentrale für politische Bildung hat er kürzlich das Buch „Ein Koffer voll Hoffnung – Das Einwanderungsland Baden-Württemberg“ verfasst. „Die Mi­gration minderte zwar die Arbeitslosigkeit und verschaffte durch die Überweisungen der Landsleute aus dem Ausland kräftige Devisen.“ Plötzlich fehlten aber in den Heimatländern vor allem in der Landwirtschaft, der Industrie und dem Bausektor die Arbeitskräfte, so Meier-Braun.

Wie auf dem Pferdemarkt

An jedem Wochentag ab morgens um 7 Uhr standen 50 bis 100 Bewerber Schlange, erinnert sich Eckardt. An einem Dienstag im Februar 1966 waren es in Thessaloniki 233 Bewerber – jeder Einzelne mit der Hoffnung auf ein besseres Leben in „Germania“. Das Auswahlverfahren, zu dem auch eine ärztliche Untersuchung gehörte, war zum Teil entwürdigend, wie sich Eckardt erinnert. „In Gruppen von zehn Personen kamen sie zu unserem deutschen Amtsarzt. Oft nur mit Unterhose oder Turnhose bekleidet, mussten sie sich ‚besichtigen‘ lassen. Fast wie auf dem Pferdemarkt wurde das Gebiss kontrolliert“, sagt Eckardt, der mit seiner Frau, die auch schon in Griechenland dabei war, in Schwaikheim bei Waiblingen lebt.

Heute, 60 Jahre nach der Unterzeichnung der Anwerbeabkommen mit Griechenland und Spanien, leben rund 96 000 Menschen mit griechischen und 36 000 mit spanischen Wurzeln in Baden-Württemberg. Die meisten davon sind lange nach den Gastarbeiter-Zuwanderungen der 1960er und 1970er Jahre eingereist. Viele davon, als Griechenland nach 2010 in die Wirtschaftskrise schlitterte.

Doch anders als 1965 und 1966, als Hans-Jörg Eckardt Arbeiter anwarb, seien die griechischen Immigranten heute überwiegend gut ausgebildete Fachkräfte, sagt Meier-Braun. „Deren Eltern und Großeltern haben als Gastarbeiter den Südweststaat und seinen Wohlstand mit aufgebaut“, so der Buchautor. „Heute sind wir erneut auf die jungen Zuwanderer angewiesen, weil immer mehr Arbeitskräfte fehlen. So wiederholt sich eigentlich die Geschichte im Einwanderungsland Baden-Württemberg.“

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